„Der Mensch entwickelt sich, indem er spielt“
Allein im Vorschulalter verbringen Kinder bis zu 15.000 Stunden mit Spielen, dabei durchlaufen sie auch die größten Entwicklungsschritte. Die Welt der Erwachsenen in Spielzeugformat dient dafür seit jeher als Vorlage für das eigene spätere Leben – mit den Ideal-Vorstellungen der jeweiligen Zeit.
„Der Mensch spielt, seit es ihn gibt. Und damit ist Spielen quasi der Ursprung des menschlichen Handelns. Auch des menschlichen Denkens. Der menschlichen Weiterentwicklung. Der Mensch entwickelt sich, indem er spielt.“ – Dr. Karin Falkenberg, Volkskundlerin und Direktorin des Nürnberger Spielzeugmuseums.
„Eigentlich ist unsere Kultur nur auf der Grundlage von Spiel denkbar. Dass quasi spielerische Tätigkeiten, auch wenn sie nicht immer explizit als Spiel betitelt sind, der wesentliche Innovationsmotor für gesellschaftlichen Wandel, für das Hervorbringen von Kultur sind.“ – Dr. Volker Mehringer, Erziehungswissenschaftler, Spiel- und Spielzeugforscher, Universität Augsburg.
„Die Gesellschaft beeinflusst das Spielzeug. Also diese Ideen, die in einer Gesellschaft sind, zu dem, was ist normal, das fließt eindeutig ein in die Produktion von Spielzeugen. Nicht umsonst gibt es so wenig Spielzeuge, die unterschiedliche Dimensionen aufgreifen.“ – Prof. Dr. Wiebke Waburg, Erziehungswissenschaftlerin, Universität Augsburg.
Sie und ihr Team, zu dem auch Volker Mehringer gehört, untersuchen Spielzeug und Spielverhalten unter pädagogischen und soziologischen Gesichtspunkten. Ein wichtiges gesellschaftliches Thema, denn alleine im Vorschulalter verbringen Kinder bis zu 15.000 Stunden mit Spielen.
„Innerhalb dieser Zeit oder innerhalb dieser Altersspanne, durchlaufen Kinder auch die größten Entwicklungsschritte. Auf jeder Ebene. Sei es die soziale Entwicklung, sei es die motorische Entwicklung, Intelligenz und kognitive Entwicklung.“
Empathie lernen durch Rollenspiele
Überaus beliebt sind bei den Kindern dieser Altersgruppe Rollenspiele. Sie stellen Situationen nach, die sie aus ihrem Alltag im Familienverbund kennen. Dabei bereitet es ihnen besonderes Vergnügen, aus ihrer gewohnten Kind-Situation auszubrechen und im Spiel miteinander den Blickwinkel der Erwachsenen einzunehmen.
„Die Lust, mal in die Elternrolle zu schlüpfen, diese andere Machtposition, mal in der Hierarchie oben zu stehen und da bestimmen zu können. Oder mal Cowboy und Indianer zu sein oder Polizist zu spielen. Das sind ganz, ganz wichtige Schlüsselkompetenzen für soziales Agieren. Empathie, Rollenwechsel, Rollenverständnis, soziales Aushandeln. Das ist unglaublich komplex. Das traut man manchen Spielsituationen gar nicht zu, was für eine Tiefe da oft drin steckt.“
Eltern spielen heute mehr mit
Wie Kinder mit bestimmten Spielzeugen umgehen, wie sie sich in Spielsituationen verhalten, wie sich ihre interaktive Kommunikation mit anderen Kindern oder Erwachsenen gestaltet, liefert den Augsburger Wissenschaftlern wichtige Informationen. Dazu gehen sie regelmäßig in Kindergärten oder in den Familienbereich und erhalten aus Beobachtungen, Testreihen und Fragebögen wichtige Informationen. Ein klarer Trend ihrer Analysen: Haben frühere Eltern-Generationen ihre Kinder beim Spielen oft sich selbst überlassen, spielen Mütter und Väter heute mehr mit ihrem Nachwuchs.
Wichtig dabei ist: „Dass man Impulse gibt, dass man Kinder zu bestimmten Spieltätigkeiten anregt, dass man selber mitspielt, was die Eltern- Kind-Interaktion total prägen kann und was auch mehrfach durch Forschung bestätigt ist, ganz stark die Bindung zwischen Eltern und Kind fördern kann. Was aber auch eventuell die Schattenseite haben kann, dass ein Kind sich daran auch gewöhnt. Und ich glaube, das kann man auch ein bisschen mit moderieren. Wie viel Zeit möchte ich denn gerne mit meinem Kind spielen, wie sehr braucht es mein Kind auch? Da gibt es ganz große individuelle Unterschiede zwischen den Kindern, dass ich merke, das hilft ihm jetzt total und das bringt uns näher zusammen, wenn ich mit dem Kind spiele und dann kann es Phasen geben, wo ich so etwas intensiver mache und dann gibt es auch Phasen, wo ich sage: Da nehme ich mich jetzt wieder etwas zurück und versuche es zu ermutigen, auch Sachen alleine spielen zu können.“
Unterschiedliche Gütesiegel für Spiele
Ob alleine oder gemeinsam mit Eltern oder Spielkameraden: Gutes Spielzeug sollte es sein, mit dem sich Kinder beschäftigen. Über die Qualität von Spielzeug wachen in Deutschland verschiedene Institutionen wie TÜV oder Ökotest, die Spielzeug auf technische und toxische Sicherheit überprüfen und dementsprechend zertifizieren. Schon seit 1955 steht das bundesweit älteste Gütesiegel „Spiel Gut“ für pädagogisch wertvolles Spielzeug. Regelmäßig trifft sich dafür ein ehrenamtliches und unabhängiges Gremium aus Fachleuten. Ob der Spielwert eines Spielzeugs für die Kinder wirklich optimal ist, entscheidet die Runde per Mehrheitsbeschluss. Auch Volker Mehringer ist einer der „Spiel Gut“- Juroren. Was qualitativ gutes Spielzeug ausmacht, interessiert ihn natürlich auch für seine wissenschaftliche Arbeit als Spielzeugforscher.
„Also, dass Spielzeug den Kindern bestimmte Spielmöglichkeiten eröffnet und dass es da vielleicht verschiedene Qualitätsstufen gibt. Also dass manche Spielzeuge mehr zu Spiel anregen und auch zu vielseitigerem Spielen und zu längerfristigem Spielen. Was gibt es eigentlich für unterschiedliche Aspekte und Kriterien, wie man Spielzeug bewerten kann und dementsprechend die Qualität von Spielzeug? Und die bemisst sich ausschließlich daran, was letztendlich für ein Spiel dadurch möglich wird. Im Mittelpunkt bleibt immer das Spielen.“
Ein weiterer Forschungsschwerpunkt, der die Augsburger Spielzeugforscher interessiert, ist die Analyse des Kaufverhaltens. Dabei beschäftigt sie zum Beispiel die Frage: „Wer wählt Spielzeug, wie, anhand welcher Kriterien aus? Und da gucken wir unterschiedliche Akteure an. Kinder als allererste. Das ist so eine Veränderung, die sich in den letzten Jahren in der Erziehungswissenschaft durchgesetzt hat, dass man Kinder als aktive sozial handelnde Akteure wahrnimmt und auch so behandelt und deswegen macht man das auch in der Forschung so, dass man nicht mehr sagt, ich frage die Eltern oder die Erzieherin, die pädagogischen Fachkräfte, sondern wir fragen auch die Kinder heutzutage.“
Und das aus gutem Grund, denn Kinder scheinen in Sachen Spielzeugkauf die letzte und entscheidende Instanz zu sein. „Unsere Untersuchung hat natürlich sehr stark gezeigt, dass der Kinderwunsch eine ganz große Rolle spielt. Also bei den Kleinen, die können sich ja noch nicht so gut äußern, da spielt das noch keine so große Rolle, aber je älter die werden, wenn die sich nachher artikulieren und sagen, das möchte ich – da ist das für die Eltern schon ganz schwer zu sagen: Das Spielzeug möchte ich nicht.“
Viele Eltern, Großeltern oder Sorgeberechtigte gehen bedingungslos auf die Spielzeugwünsche ein, um dadurch ihre Beziehung zu den Kindern positiv zu beeinflussen. Da werden dann auch schon einmal die Augen zugedrückt, was den pädagogischen Wert von einzelnen Spielzeugartikeln angeht. Warum sich Kinder ganz hartnäckig für ein besonderes Spielzeug interessieren, hat nicht immer nur individuelle Bedürfnisgründe. Schon für Kinder im Vorschulalter werden Autos, Figuren oder Puppen bestimmter Hersteller zum Statussymbol, deren Besitz in der Gemeinschaft über Ausgrenzung oder Gruppenzugehörigkeit entscheiden kann. Doch nicht in jeder Familie ist das Geld für alle jeweils angesagten Spielzeugartikel vorhanden.
„Und deswegen entwickeln Eltern teilweise ganz kreative Strategien, das ist ja heute alles möglich, dann wird da eben über Ebay-Kleinanzeigen billiger gekauft, gebraucht gekauft. Egal ob die Eltern viel Geld haben oder wenig Geld, trotzdem wird viel Geld in Spielzeuge investiert.“
Spielwarenmesse liefert 100.000 Neuheiten pro Jahr
Drei Milliarden Euro werden in Deutschland jedes Jahr für Spielzeug ausgeben. Pro Kind sind das 290 Euro. Das ist der Spitzenplatz in Europa. Über solche Zahlen freut sich die Branche und entwickelt laufend neue Produkte. Bei der Spielwarenmesse in Nürnberg, der weltweit wichtigsten Veranstaltung ihrer Art, werden jedes Jahr bis zu 100.000 Neuheiten vorgestellt. Branchenintern bezeichnet man Nürnberg gerne als „Toy-City“. In der Großregion Nürnberg haben viele große Spielzeugproduzenten ihren Firmensitz. Schon im Mittelalter war die fränkische Stadt Zentrum der Spielwarenherstellung. Im Nürnberger Spielzeugmuseum wird an dieses interessante Kapitel der Stadtgeschichte erinnert.
„In dieser Vitrine haben Sie die zarten Anfänge des Spielzeugs, was man eben davon erhalten hat. Hier für Mitteleuropa interessant sind diese kleinen Docken, so heißen die bei uns in Nürnberg. Das sind Puppen mit Kruseler Hauben, also in dem Stil der Damen des 13. und 14. Jahrhunderts. Ganz eindeutig auch Modepuppen, aber zum Spielen gemacht für Kinder.“
Diese aus Holz gedrechselten, meist etwa zehn Zentimeter großen Figuren, wurden in den Nürnberger Manufakturen in Massen hergestellt und zum Verkaufsschlager, der auch in andere Städte, Regionen und Länder verkauft wurde. Passend für Jungen gab es solche Docken auch als Reiter mit Pferd.
„Spielzeug ist nie unschuldig. Spielzeug hat meisten eine Intention und natürlich sollten die jeweiligen Geschlechter auf ihre Rollen vorbereitet werden. Die waren in früheren Jahrhunderten sehr viel traditioneller, als sie es heute noch sind. Aber ganz klar, die Mädchen sollten sich mit Mode beschäftigen, sollten den Haushalt beherrschen lernen. Die Jungs sollten sich im Wehren üben, sollten Reiten lernen, sollten kämpfen lernen. Kleine Schwerter zu haben, kleine Schaukelpferde zu haben, das geht noch bis ins 19. und 20. Jahrhundert hinein, dass das ein klassisches Jungs-Spielzeug war, zu reiten, auf Pferden zu sitzen und ein klassisches Mädchenspielzeug Puppenküchen zu betreiben und das ganz Inventar dieser Küchen zu lernen und wahrzunehmen. Also Spielzeug hatte eine Doppelrolle. Es war zum Spielen da, aber es war auch ganz klar zur Erziehung der Mädchen und der Jungs eingerichtet worden.“
Stumme, aber aussagekräftige Zeugen
Die Welt der Erwachsenen diente in Spielzeugformat als Vorlage für das eigene spätere Leben. Das Museum zeigt dafür viele Beispiele. Eine bis ins Detail nachgebildete Mini-Metzgerei, ein Klassenraum mit Schüler-Figuren, die in engen Bänken sitzen. Der Lehrer steht vor der Klasse und drischt mit dem Zeigestock auf das Hinterteil eines Schülers ein. Auch das gehört zum Zeitgeist und zur Realität vergangener Jahrhunderte. Es gibt viele aufwendig gestaltete Puppenküchen mit Herden, Töpfen, Pfannen, Rührschüsseln und Küchengeräten. Für die Volkskundlerin Karin Falkenberg sind diese wirklichkeitsgetreuen Spielzeugwelten aus vergangenen Jahrhunderten stumme, aber aussagekräftige Zeitzeugen.
„Wir können damit Kulturgeschichte der Vergangenheit nachvollziehen und teilweise viel präziser als mit vielen anderen Quellen, die wir haben. Wir haben natürlich Bildquellen, wir haben textliche Quellen, aber wenn wir plötzlich so ein kleines Spielzeug in der Hand haben und sehen, wie authentisch etwas nachgebildet ist, dann hat man plötzlich einen Einblick in vergangene Realitäten, die andere Quellen in dieser Eindrücklichkeit nicht bewerkstelligen können. Puppenhäuser zeigen Einrichtungsstile idealtypisch aus vergangenen Jahrhunderten, die wir in normalen Häusern nie erhalten konnten. Aber wenn man die Puppenstuben anguckt, die erhalten sind aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert, da hat man teilweise richtig intakte, idealtypische Wohnwelten der jeweiligen Zeit.“
In einer anderen Vitrine zeigen Ausstellungsstücke, wie manipulativ Spielzeug sein kann, wie es die Meinung von Kindern prägt, ihren Blick auf die Gesellschaft beeinflussen kann. Hitler am Rednerpult, den rechten Arm zum Gruß emporgestreckt. Figuren in SA- und SS-Uniformen, Wehrmachtssoldaten, Hakenkreuzfahnen. Das Dritte Reich in Spielzeugformat. Nationalsozialistisches Gedankengut eroberte ab 1933 auch die Kinderzimmer.
„Daran sieht man, wie wichtig es ist, sich mit Spielzeug intensiv auseinanderzusetzen und zu hinterfragen, was machen wir denn da eigentlich gerade, wie prägen wir unsere Kinder? Was vermitteln wir denen? Was trauen wir ihnen zu, was können sie selber machen, was können sie auch noch nicht selber entscheiden? Mit welchen Ideal-Vorstellungen und welchen Ideal-Bildern konfrontieren wir sie oder geben sie ihnen völlig unreflektiert an die Hand und was bewirkt das dann? Und das Schöne ist, hier im Spielzeugmuseum, hier kommen die Diskussionen auf und hier ist diese Bewusstwerdung, was Spielzeug alles ist und was es alles bedeutet und was es auch für Effekte haben kann.“
Mädchen spielen auch mit „Jungsspielzeug“
Dass Spielzeug durch die Jahrhunderte hinweg bis heute ein Spiegelbild der Gesellschaft ist, vielmehr aber noch Spiegelbild des gesellschaftlichen Denkens, beschäftigt auch die Augsburger Spielzeugforscher Wiebke Waburg und Volker Mehringer. Sie wollten wissen, wie sich die Veränderung im Rollenverständnis von Frau und Mann in der modernen westlichen Welt auf den Umgang mit Spielzeug niedergeschlagen hat und kamen in einem Versuch zu erstaunlichen Ergebnissen. Viele Jungs zeigten zwar großes Interesse an „typischem Mädchenspielzeug“, lehnten aber dennoch ab, damit intensiver zu spielen.
„Da gibt es so etwas wie eine gewisse soziale Grenze, ein sozial gewünschtes Verhalten, wie ich mich verhalten soll als Junge. Und dazu gehört auch, dass ich im Regelfall nicht mit Mädchenspielzeug spiele. Umgekehrt aber, dass sich das für Mädchen mehr geöffnet hat, dass die gesagt haben: Das ist Jungs-Spielzeug, damit kann ich aber auch spielen, da habe ich überhaupt kein Problem mit. Das deckt sich mit vielen anderen Studien, die aussagen, dass in den letzten Jahrzehnten eher eine Schließung des Spielzeugs für Jungs passiert, dass die eher bei ihrem Jungsspielzeug bleiben und durch eine Veränderung der weiblichen Geschlechterrolle da eine Öffnung stattgefunden hat, dass es eher okay ist, für Mädchen mit Jungsspielzeug breiter zu spielen und für Jungs weniger okay ist, mit Mädchenspielzeug zu spielen. Und das fanden wir total spannend.“
Die Normvorstellungen aus der Erwachsenenwelt fließen auch in das Spielwarensortiment vieler Produzenten ein. Sie bedienen die Rollenerwartungen und Klischees, weil sie damit gute Umsätze machen. Welchen Einfluss das auf die Entwicklung der sozialen Kompetenzen unserer Kinder hat, ist eine der aktuellen Fragen, der die Augsburger Wissenschaftler Wiebke Waburg und Volker Mehringer auf den Grund gehen wollen.
„In Spielzeugen werden bestimmte Normalitätsvorstellungen darüber, wie Menschen heutzutage sein sollen, transportiert. Und bestimmte Kategorien, die auch auf einer Strukturebene in der Gesellschaft abgewertet werden oder benachteiligt sind, finden im Spielzeug auch wenig Berücksichtigung.“
Die Vielfalt der Gesellschaft ist nicht abgebildet
Die Spielzeugwelt wird von Figuren und Puppen mit weißer Hautfarbe dominiert. Auch Themen wie Behinderung, Krankheit, Gebrechlichkeit, Alter oder Armut scheinen im riesigen Spielwarenangebot vollkommen ausgeblendet zu sein.
„Das hat eigentlich mit der Vielfalt und der Breite der Gesellschaft relativ wenig zu tun. Aber Kinder erschließen sich gerade im Spielen die Welt, die sie umgibt. Wenn wir ihnen beibringen wollen, wie es ist, in einer vielfältigen Gesellschaft zu leben, selber akzeptiert zu sein oder andere zu akzeptieren, zu gucken ob da Ungleichheit draus entstehen kann und wie man was dagegen tun kann, sollte man eigentlich schon früh anfangen. Und Kinder fangen schon im Kindergartenalter an, solche Unterschiede zwischen Personen, zwischen Gruppen ganz klar wahrzunehmen und da auch eine Einstellung zu entwickeln. Und die kann positiv oder negativ sein.“
Um herauszufinden, wie gesellschaftliche Vielfalt im Angebot auf dem Spielzeugmarkt dargestellt ist, werteten die Augsburger Wissenschaftler Kataloge der wichtigsten Hersteller aus. 3.000 Artikel nahmen sie dabei unter die Lupe und stellten fest, dass 75 Prozent aller Spielzeugfiguren und -Puppen weiße Hautfarbe haben. Figuren mit körperlichen Beeinträchtigungen finden sich kaum. Nur 1,2 Prozent der Figuren und Puppen tragen eine Brille und nur eine Figur stellte eine Person im Rollstuhl und mit Gehstock dar. In Bezug auf das Alter zeigte sich, dass hauptsächlich Erwachsene mittleren Alters, gefolgt von Jugendlichen im Angebot der Hersteller repräsentiert sind. Senioren sind, wie soziale Randschichten, total unterrepräsentiert. Dominiert wird die Spielzeugwelt von smarten Erfolgstypen. Diese ernüchternde Bilanz brachte die Augsburger Pädagogen zur Fragestellung für ein aktuelles Forschungs-Projekt.
„Gibt es Spielzeug, das vielfältig ist, das frei ist von Diskriminierungen, von Stereotypen, von Vorurteilen, sondern sehr offen, sehr differenziert ist und Spielzeug auch, das inklusiv ist? Das nicht in der Form diskriminiert, dass es nur Kinder benutzen können, die vielleicht keine Behinderung haben, sondern dass es Kinder mit und ohne Behinderung nutzen können. Und wenn man Spielzeug nach solchen Kriterien auswählt, hat das wirklich einen Effekt auf das Spielverhalten der Kinder? Bringt es etwas, Kinder an gesellschaftliche Vielfalt heranführen zu wollen?“
Bei großen Firmen und kleinen Werkstätten suchten die Wissenschaftler nach Spielzeug, das die Gesellschaft in ihrer Vielfalt repräsentiert. Sie kauften Puppen, die Menschen mit Downsyndrom darstellen, Puppen mit unterschiedlicher Hautfarbe und ein großes Krankenhaus mit dazugehörigen Spielfiguren, die Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen charakterisieren. Das geeignete Testumfeld fanden die Wissenschaftler im Augsburger Hessing Förderzentrums für Kinder und Jugendliche.
„In diesem Zentrum gibt es ein Hessing-Kinderhaus, wo Inklusion von Anfang an gelebt wird, und zwar wirklich von einer Krabbelgruppe, die ganz Kleinen letztendlich, über eine integrative Krippengruppe, die von Null bis Drei, dann auch Kindergarten und es gibt auch eine Hortgruppe.“
Identifizierungsmöglichkeit durch spezielles Spielzeug
Silvia Reißner ist die Leiterin des Kinderhauses, wo die Wissenschaftler in einer ersten Testphase zunächst einmal inklusionserfahrene Kinder mit und ohne körperlicher und geistiger Behinderung dabei beobachten wollten, wie sie gemeinsam mit dem speziellen Spielzeug umgehen. Das Spielzeugkrankenhaus mit seinen vielen verschiedenen Figuren, darunter auch Rollstuhlfahrer, stieß in der Testgruppe auf besonders großes Interesse bei den Kindern, wie Katharina Enderle sagt. Sie war eine der Erzieherinnen, die an dem Projekt beteiligt waren.
„Das ist bei den Kindern sehr gut angekommen und hat jeden angesprochen, hat behinderte und nicht behinderte Kinder angesprochen. Es hat einfach viel widergespiegelt. Die Kinder haben sich da auch wiedergefunden, die auch oft schon im Krankenhaus waren und haben dazu auch oft etwas formuliert. Das war ganz toll, dass das immer so in der Gemeinschaft passiert ist.“
Die aktuelle Studie zeigt, dass Kinder mit einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung durch spezielles Spielzeug eine Identifikationsmöglichkeit erhalten, ihre besondere Lebenssituation besser reflektieren und sich im Spiel mit Kindern ohne Behinderung besser einbringen und austauschen können.
„Das bietet vielfältige Möglichkeiten, vor allem im Kita-Alltag, auf Unterschiede einzugehen und sie wertschätzend zu behandeln. Und das Ziel ist natürlich auch, die Kinder zu schulen in Bezug auf Fairness, auf Gerechtigkeit und dass sie im allerbesten Fall, wenn ihnen irgendwo etwas auffällt, hier ist jemand ungerecht, hier wird jemand schlecht behandelt, dass sie selbst sogar eingreifen und sagen, so geht es nicht, das möchte ich nicht, so wollen wir nicht miteinander umgehen.“
In einer weiteren Testphase, die noch in diesem Jahr beginnen soll, wollen Wiebke Waburg und Volker Mehringer herausfinden, wie Kinder in nicht inklusiven Einrichtungen auf das spezielle Spielzeug reagieren, wie sie mit Spielfiguren im Rollstuhl, Puppen mit Downsyndrom oder mit solchen, die Menschen aus anderen Kulturkreisen darstellen, umgehen. Mit den Ergebnissen ihrer Arbeit wollen die Augsburger Spielzeugforscher wichtige Informationen für Eltern, vor allem aber für das Erziehungspersonal von Kindergärten geben. Entscheidungshilfen für die Anschaffung von Spielzeug, das sich gut dazu eignet, den Kindern positive Lernimpulse im Umgang mit anderen Mitmenschen zu geben.
„Spielzeug reicht natürlich nicht, das muss immer eingebettet sein in bestimmte pädagogische Strategien. Viele Gespräche, viel Spielen miteinander. Aber es kann zumindest einen Anlass geben, um Kinder auf das Leben in der heutigen Gesellschaft besser vorzubereiten.“